Ministerpräsident Boris Rhein

Boris Rhein

Hessischer Ministerpräsident

Eröffnungsrede des Staatsministers a.D., Peter Beuth
zur Verleihung des
Franz-Werfel-Menschenrechtspreises 2025
am 1. Juni 2025 in der Paulskirche
Frankfurt am Main

 

Lieber Vitali Klitschko,
liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Europäischen Parlament, aus dem Deutschen Bundestag und aus dem Hessischen Landtag, 
sehr geehrter Herr Bundesminister Pistorius, 
lieber Herr Oberbürgermeister Josef, 
lieber Herr Generalkonsul Kostiuk, 
Kolleginnen und Kollegen aus dem hessischen Kabinett, 
lieber Peter Beuth, sehr geehrte Mitglieder der Jury, 
lieber Herr Dr. Fabritius, lieber Andreas Hofmeister, 
meine sehr geehrten Damen und Herren,

ich freue mich wirklich sehr, Sie alle heute als Schirmherr der Verleihung des Franz-Werfel-Menschenrechtspreises begrüßen zu dürfen. Hier, lieber Herr Oberbürgermeister, in der Frankfurter Paulskirche ist die Wiege unserer Demokratie in Deutschland. Hier ist das erste frei gewählte Parlament unseres Landes zusammengekommen. Hier haben die Abgeordneten 1849 die erste freiheitliche Verfassung unseres Landes verabschiedet, und zwar eine Verfassung, die ja getragen war vom Gedanken unveräußerlicher Grund- und Bürgerrechte.

Aber wir sind nicht nur an einem besonderen Ort hier, das ist er zweifelsohne, sondern wir sind in einem ganz besonderen Jahr hier. Es ist schon deutlich geworden, 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges mit über 60 Millionen Toten, mit dem Zivilisationsbruch der Shoah, mit unvorstellbaren Verbrechen gegen die Menschlichkeit und 80 Jahre auch nach dem Unrecht, der Vertreibung und dem Leid, das sich ja für viele auch nach dem Kriegsende fortgesetzt hat.

Die Antwort der Völkergemeinschaft auf diese tiefe Zäsur ist die Gründung der Vereinten Nationen gewesen, und vor allem die Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1948 in Paris. Diese Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, das ist ein weltweites Bekenntnis zur Würde des Menschen und natürlich auch zu seinen unveräußerlichen, universellen Rechten. 
Und man kann das eigentlich in einem ganz einfachen Satz formulieren: Jeder Mensch hat das Recht auf Leben, jeder Mensch hat das Recht auf Freiheit und auf Sicherheit.

Das ist eine Leitidee – eine Leitidee, die auch in Europa Wirkung entfaltet hat. Zu dem Bekenntnis zu gemeinsamen Werten wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Demokratie trat dann noch etwas Entscheidendes hinzu: Der Wille zur Überwindung des Nationalismus und der Wille zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. Wir haben erst vor kurzem, nämlich am 9. Mai, des 75. Jahrestags des Schumann-Plans gedacht. Das ist die Geburtsstunde der Europäischen Union, meine Damen und Herren.

Das ist eine wahre Erfolgsgeschichte, die wir uns immer wieder vor Augen halten müssen. Und ich glaube, wir können sie auch gar nicht hoch genug einschätzen. Es ist ja nicht in allererster Linie eine Wirtschaftsunion gewesen, sondern es ist das größte Freiheitsprojekt, das man sich nur denken kann. Man muss sich das vorstellen: Ehemalige Kriegsgegner, bitterste Kriegsgegner haben sich die Hand gereicht. Sie haben sich entschieden, ihr Schicksal zusammen zu gestalten, und zwar in Frieden und in Freiheit.

Und die Rückkehr Deutschlands in die Gemeinschaft der Völker, das ist ja nun wirklich alles andere als selbstverständlich zu diesem Zeitpunkt gewesen. Aber trotzdem haben die Völker Deutschland die Chance gegeben, zurückzukehren. Dieses Deutschland, das die Welt an den Abgrund geführt hat und für das furchtbarste Verbrechen in der Welt gestanden hat. Die Rückkehr Deutschlands in diese Gemeinschaft der Völker und dann auch die Aussöhnung mit Nachbarn, denen wir so furchtbares angetan haben – ich finde schon, das gehört zu den herausragenden Geschenken unseres Schicksals als Nation, meine sehr geehrten Damen und Herren.

Diese Wendung unserer Geschichte hatte – und ich sage, hat auch weiterhin – eine ganz zentrale Voraussetzung, nämlich die Auseinandersetzung mit unserer Vergangenheit, mit ihren Schrecken, mit ihren Ursachen. Und deswegen sage ich sehr deutlich: Nein, es kann keinen Schlussstrich geben. Es kann diesen Schlussstrich niemals geben, denn das sind wir denen schuldig, die unermessliches Leid erfahren haben. Wir sind es aber auch uns selbst und unserer Demokratie schuldig, wenn wir auf der Grundlage unserer Erfahrungen eine bessere Zukunft gestalten wollen, meine sehr geehrten Damen und Herren.

Richard von Weizsäcker hat das vor 40 Jahren auf den Punkt gebracht. Er hat gesagt: „Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.“ Und das ist richtig, denn nur wer sich der Vergangenheit stellt, der kann auch die richtigen Schlüsse ziehen und den Anfängen neuen Unrechts wehren. Das ist es, was diese zwei Worte meinen: Nie wieder. Genau das ist das, was nie wieder meint.

Und das trifft natürlich auch den Kern Ihrer Arbeit hier mit dem Zentrum gegen Vertreibungen. Dieses Zentrum steht für die Dokumentation von Genoziden und für deren weltweite Ächtung. Sie kämpfen für die Anerkennung der Opfer und wollen ihnen Erinnerung verschaffen im historischen Gedächtnis. Sie wollen deutlich machen, dass Menschenrechte unteilbar sind und universelle Geltung haben. Sie stehen ein für die Versöhnung und die friedliche Nachbarschaft der Völker.

Und in diesem Zusammenhang – auch das will ich an einem Tag, lieber Dr. Fabritius, wie heute sehr deutlich unterstreichen – steht ganz unmittelbar die Charta der Heimatvertriebenen, die bereits 1950 in Stuttgart verabschiedet wurde, also jetzt vor 75 Jahren. Und diese Charta ist ein Symbol, nicht nur ein Symbol für das leidvolle Schicksal von Millionen von Menschen, die in der Endphase des Zweiten Weltkrieges ihre Heimat verloren haben, ihre Familie verloren haben, ihre Existenzgrundlage verloren haben, die auf der Flucht nach Westen Entbehrungen, Zwangsarbeit, Vergewaltigungen und furchtbares Leid erlitten haben.

Sie ist vor allem ein ganz besonderes Dokument, sie ist ein Dokument der Versöhnung. Die Charta ruft dazu auf, das erlittene Unrecht eben nicht in Hass oder Bitterkeit umschlagen zu lassen. Und deswegen ist sie eine ganz beeindruckende Absage an Rache und Vergeltung. Und zwar ja zu einem Zeitpunkt, als die Wunden noch offen gewesen sind, meine sehr geehrten Damen und Herren. Man muss sich mal diese Weitsicht vor Augen führen: Während Europa nach dem Zweiten Weltkrieg in Trümmern lag, haben die Heimatvertriebenen mit der Charta bereits den Blick auf den europäischen Integrationsprozess gerichtet, um eine gemeinsame und friedliche Zukunft zu gestalten.

Lieber Herr Dr. Fabritius, lieber Andi Hofmeister, die Heimatvertriebenen sind in unserem Land oft falsch und ungerecht behandelt und eingeordnet worden, politisch eingeordnet worden, als rückwärtsgewandt, als revisionistisch. Das will ich sehr deutlich an einem Tag wie heute sagen. Dabei waren und sind sie exakt das Gegenteil davon, meine sehr geehrten Damen und Herren. Sie stehen für ein Europa, das die Würde des Menschen schützt, das Heimat und Unversehrtheit insbesondere achtet und das Frieden wahrt. Dafür stehen die Heimatvertriebenen.

Aber, meine sehr geehrten Damen und Herren, die Realität in Europa ist derzeit eine völlig andere. Seitdem der Kriegsverbrecher Wladimir Putin die friedliche Ukraine angegriffen hat, geht alles wieder von vorne los. Es geht alles wieder von vorne los. Wieder sind Menschen auf der Flucht vor Tod und Zerstörung. Wieder werden Vergewaltigungen und Folter als Kriegswaffe eingesetzt. Wieder werden Menschen verschleppt und darunter auch viele Kinder, meine sehr geehrten Damen und Herren.

Dieser Krieg, der jetzt mehr als drei Jahre währt, dieser blutige Krieg, das ist ein Rückfall in schlimmste Zeiten Europas. Ich will das in aller Deutlichkeit sagen: Das Morden hat einzig und allein der Kriegsverbrecher Wladimir Putin zu verantworten, meine sehr geehrten Damen und Herren.

Herr Oberbürgermeister und Peter Beuth haben darauf hingewiesen: Tag und Nacht heulen Sirenen mitten in den Städten in Kiew und anderswo. Tag und Nacht schlagen Bomben ein. Krankenhäuser und Schulen, Wohnungen und öffentliche Plätze werden getroffen. Ganz bewusst werden solche zivilen Ziele von Russland bombardiert und die Menschen haben Angst. Sie erleiden Schrecken und sie erfahren unermessliches Leid, meine sehr geehrten Damen und Herren, mitten in Europa.

Sie, lieber Dr. Klitschko, haben immer wieder in aller Deutlichkeit darauf hingewiesen: Die Ukrainerinnen und Ukrainer kämpfen auch für uns in dieser furchtbaren Lage. Sie kämpfen für Europas Freiheit. Sie kämpfen insbesondere für unsere Werte und sie kämpfen für all das, was uns, unser Leben hier, unser liberales Leben hier möglich macht, meine sehr geehrten Damen und Herren.

"Nichts kommt von selbst. Nur wenig ist von Dauer. Besinnt euch auf eure Kraft und darauf, dass jede Zeit eigene Antworten will." – Lieber Herr Pistorius, Sie werden wissen, von wem dieses Zitat stammt. Sie haben es erkannt. Es ist ein Zitat von Willy Brandt und Willy Brandt hat das im Jahr 1992 gesagt. Und Willy Brandt hatte recht, meine sehr geehrten Damen und Herren.

Heute gilt das im Übrigen für alle, die ein friedliches und die ein freies Europa wollen und die die Ukraine vom Furor Wladimir Putins befreien wollen. Besinnt euch auf eure Kraft. Das Töten in der Ukraine muss aufhören. Der Vormarsch Putins auf seinem aggressiven, eurasischen Expansionskurs muss gestoppt werden. Und die Deutschen müssen das begreifen, die Deutschen müssen das begreifen in diesen Diskussionen hier in dem Komfortraum, in der Komfortzone, in der wir uns befinden. Putin hört eben nicht in der Ukraine auf. 
Das bedeutet es, wenn Vitali Klitschko sagt: Die Ukrainer kämpfen auch für Europa. Genau das bedeutet es. Er wird dort nicht aufhören. Wladimir Putin versteht nur eine Sprache. Es ist die Sprache der Stärke. Und deswegen müssen wir die Ukraine dabei unterstützen, dass sie sich vollumfänglich verteidigen kann, auch gegen militärische Ziele außerhalb des eigenen Staatsgebietes.

Und deswegen war der Tag, an dem Sie die deutsche Brigade in Litauen in Dienst gestellt haben, Herr Bundesminister Pistorius, ein historischer Tag. Und ich bin sehr dankbar, dass ich dabei sein durfte. Die Bundeswehr stationiert erstmals dauerhaft eine komplette Kampfbrigade im Ausland – rund 5.000 Soldatinnen und Soldaten, 44 Leopard-2-Kampfpanzer. Das, Herr Bundesminister, das ist eine echte außenpolitische Zeitenwende, die Sie da eingeleitet haben. Und das ist ein starkes Signal an Wladimir Putin. Herzlichen Dank dafür.

Besinnt Euch auf Eure Kraft. In Deutschland gehen wir oftmals, natürlich bedingt durch unsere Historie – wir sprachen hier heute schon darüber – gehen wir oft sehr verdruckst mit dem Begriff und auch mit dem Thema Führung um. In Wahrheit aber erwartet Europa jetzt diese Führung gerade von uns, auch aufgrund der Tatsache, dass die transatlantische Beziehung derzeit in einer unfassbar schwierigen Situation ist. Ich habe das noch höflich ausgedrückt. Deswegen ist die Aufstellung der Brigade in Litauen, Herr Bundesminister, genau das: Führung für Frieden und Freiheit. Das ist das, was dort gerade stattfindet.

"Putin, Den Haag wartet auf dich" – Das steht gut sichtbar über die ganze Stadt auf einem Hochhaus in Vilnius. Wir beide haben das gesehen. Ich will das sehr deutlich sagen: Nur mit einer solchen Politik, wie Sie sie machen, sorgen wir dafür, dass Den Haag eben nicht länger warten muss und dass das Töten in der Ukraine aufhört, meine sehr geehrten Damen und Herren.

Der Kampf der Ukrainerinnen und Ukrainer ist ein Kampf für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte. Auch Sie, lieber Herr Dr. Klitschko, haben als Bürgermeister von Kiew, aber auch schon in der Zeit davor, ob es in der Orangenen Revolution war oder ob es jetzt in dieser Situation ist, dafür gekämpft. Sie sind ein beeindruckender Kämpfer für die Werte, für die der Franz-Werfel-Menschenrechtspreis und auch seine bisherigen Preisträgerinnen und Preisträger stehen. Ich will Ihnen gratulieren, lieber Herr Dr. Klitschko, zu dieser wirklich verdienten Ehrung mit dem Franz-Werfel-Menschenrechtspreis.

Sie, lieber Herr Dr. Klitschko, erinnern uns daran, dass universelle Menschenrechte, Frieden und ein gutes Zusammenleben der Völker keine Selbstverständlichkeit sind. Wir müssen ständig dafür eintreten. Wir müssen sie ständig verteidigen.

In diesen unsicheren Zeiten ist es deshalb umso wichtiger, dass wir an der Vision eines vereinten Europas festhalten – ein Europa, das in Frieden und Respekt für alle Kulturen lebt und das Selbstbestimmungsrecht der Völker achtet.

Wir wollen dieses Europa und seine Werte zu neuer Souveränität und Stärke führen. Denn Europa ist unsere Zukunft, ich füge ganz deutlich hinzu: auch die der Ukraine, meine sehr geehrten Damen und Herren.

Herzlichen Dank, herzlichen Glückwunsch – Ich freue mich, dass wir heute hier sind.

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